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Die Entdeckung der Handarbeit

Bei speziellen Workshops können Kanufahrer lernen, ein eigenes Boot zu bauen. Die Kurse passen gut in eine Zeit, in der die Sehnsucht nach Entschleunigung groß ist

Aus dünnen Holzleisten entsteht das Gerüst. Franziska bearbeitet das Holz mit einem Handhobel, Steffi rundet die Kanten mit einer Feile ab. Alles wirkt filigran, wie ein Modell. Doch schon in zwei Tagen soll dieses Gerüst die beiden Frauen tragen, dann wollen sie es in die Spree lassen und lospaddeln. Steffi, 36 Jahre alt, Lehrerin im „Sabbatical“, und Franziska, 33, Wildnispädagogin, erfüllen sich einen Traum. Den Traum vom eigenen Kanu.

Handgefertigt, aus Holz, mit Baumwollstoff bespannt, der wasserundurchlässig gemacht wird. Ein Boot, so wie es früher auch die Eskimos gebaut haben, nur dass die nicht mit Holz und Stoff gearbeitet, sondern Haut und Knochen von erjagten Tieren verwendet haben. Fünf Tage dauert der Workshop. Nach so einem Tag in der Werkstatt fallen sie abends todmüde ins Bett, erzählt Steffi. „Das tut der Seele gut, endlich mal wieder mit den Händen zu arbeiten.“

Nach dem Comeback des Wanderns haben viele nun die Boote für sich entdeckt. Egal wen man fragt, ob Kanuverleiher, Tourenanbieter oder die Offiziellen vom Deutschen Kanu-Verband, sie alle bestätigen: Der Kanusport boomt. Mehr als eine Million Kanuten soll es in Deutschland geben, das haben Umfragen von Kanu-Verband und Verleihern ergeben. Beinahe 120.000 Menschen sind in Kanuvereinen organisiert. In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Anteil der weiblichen Mitglieder stark erhöht. Vor allem aber sind viele Jüngere, Mittzwanziger bis Enddreißiger, dazugekommen. Das berichtet Norbert Köhler. Im Deutschen Kanu-Verband leitet der Bremer das Ressort Service, er ist für die Neugewinnung von Mitgliedern zuständig.

Köhler, der lange gesegelt ist, bevor er auf Kanu und Kajak umsattelte, erklärt sich die Entwicklung mit einem Wertewandel. „Die Jungen haben nicht mehr nur ihre Karriere im Blick, sondern wollen wieder das Leben und die Natur genießen“, sagt er. Von der „Generation Y“, die sich dem Berufsstress mehr und mehr verweigert und stattdessen darauf achtet, dass Freizeit und persönliches Glück nicht zu kurz kommen, war in letzter Zeit häufig die Rede. Nun scheint es sie in die Kanuboote zu treiben.

Der Ort, an dem das Kanu von Steffi und Franziska entsteht, ist ein früheres Trafowerk am Berliner Spreeufer, weit im Osten der Hauptstadt; eine Backsteinhalle aus der Gründerzeit, in der vor gar nicht so langer Zeit noch ein Schrotthändler sein Lager hatte und in der nun Designer, Künstler, Fotografen und Filmregisseure Quartier bezogen haben. Die Frau, die hinter der Bar den Cappuccino aufbrüht, trägt Dreadlocks, die Jungs vorn am Wasser enge Röhrenjeans. Eine Discokugel hängt hoch über den Köpfen, im Eingangsbereich hat jemand Schwarz-Weiß-Fotos von stoisch blickenden Models an die Wand gehängt, aus dem Café weht Astrud Gilbertos Stimme herüber, die das Mädchen aus Ipanema besingt. Wer noch einen Beweis dafür sucht, dass Kanufahren im Trend liegt, hier bekommt er ihn auf dem Silberteller serviert.

Auch Elisabeth Schuster und Nikola Raspopovic, die die Workshops am Berliner Spreeufer unter dem Namen „Urban Indian“ anbieten, erzählen, dass die meisten, die zu ihnen kommen, einer Auszeit entgegenfiebern, dass die Sehnsucht nach Entschleunigung groß ist unter den Kanu-Fans. Vor allem Designer, Architekten und Bauingenieure würden die Kurse besuchen, aber auch viele, die in sozialen Berufen arbeiten. Sie alle wünschen sich, endlich einmal wieder handwerklich zu arbeiten, etwas Eigenes zu erschaffen. „Es ist etwas ganz anderes, ob du dir einfach ein Kanu kaufst oder ob du genau weißt, wie dein Boot funktioniert, weil du alles selbst gemacht hast“, sagt Nikola Raspopovic. Er hat die Kanus entwickelt. Weil sie offen sind wie ein klassisches Kanu, aber meistens mit einem Doppelpaddel wie beim Kajak gefahren werden, hat er sie Kanuyaks getauft.

Der 42-jährige Raspopovic, der Dreitagebart, Strubbelfrisur und eine alte Lederjacke trägt, ist ein Autodidakt. Sein erstes eigenes Boot hat er vor 14 Jahren gebaut. Damals hat er in Porto gelebt und Kunst studiert, das Kanu ist in seinem Atelier entstanden. Sein Boot sollte schnell sein, sollte auch bei Wellengang gut laufen. Er ist zunächst damit aufs Meer herausgefahren, dann auf dem spanisch-portugiesischen Fluss Douro gepaddelt, nach und nach hat er mit einer Handvoll Freunde Fluss für Fluss erobert. Die Wirtschaftskrise in Portugal hat ihn und Elisabeth Schuster, die in Porto an einem Theater gearbeitet hat, vor vier Jahren nach Berlin gebracht. Seitdem bieten die beiden hier ihre Kanubau-Kurse an. Am Anfang lief es noch schleppend, mittlerweile häufen sich die Anfragen.

Auch Carolin, 37, und Ahmet, 40, sind gekommen, um ein eigenes Boot, einen Kanadier mit vier Sitzen, zu bauen. Sie ist Architektin, er arbeitet im Designcenter von Volkswagen und pendelt zwischen Wolfsburg und Berlin. Gemeinsam haben sie eine kleine Firma gegründet und verkaufen Möbel, die sie selbst gestalten. Kanu fahren sie seit einigen Jahren. „Ich arbeite viel am Rechner, da gibt es kaum einen besseren Ausgleich, als mit dem Kanu unterwegs zu sein“, sagt Carolin.

Ohne Motor, ohne Diesel durch unberührte Landschaften – Kanufahrer suchen einen anderen Kick als die Besitzer von Motoryachten. Ahmet mag Kanus wegen der Langsamkeit, es beruhigt ihn, auf dem Wasser zu sein. Man hat genügend Zeit, die Natur wahrzunehmen, bleibt aber trotzdem in Bewegung. Was man dabei geschafft hat, merkt man meistens erst am Tag darauf, wenn der Muskelkater sich meldet.

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„In keinem anderen Boot ist man dem Wasser näher“, sagt Norbert Köhler vom Kanu-Verband. Wer Kanu fährt, erlebt Flüsse und Seen aus der Entenperspektive. „Man spürt, wie das Wasser unmittelbar auf jede Körperbewegung reagiert“, schwärmt Köhler. Und man kann mit Kajaks oder Kanus in Gewässern unterwegs sein, für die andere Boote zu groß sind: kleine, verwunschene Flüsse, Wattgebiete in Küstennähe. Für Köhler muss es dabei nicht zwingend hinaus in die Natur gehen. Sein außergewöhnlichstes Kanuerlebnis hatte er in den Kanälen von Venedig, erzählt er. Auch Köhler ist ein Aussteiger. Vor zehn Jahren hat er seinen Job als Projektmanager in der IT-Branche an den Nagel gehängt, seitdem engagiert er sich im Kanuverein.

Dass der Sport so beliebt ist, liegt wohl auch daran, dass man es nirgendwo in Deutschland besonders weit hat, um in ein schönes Kanurevier zu gelangen. Im Norden sind es etwa die Weser, die Trave oder die Treene, die es zu befahren lohnt, im Süden sind es die Flüsse in den Voralpen wie die Isar oder die Iller. Und selbst in Deutschlands eher wasserärmerer Mitte finden sich einige schöne Kanuflüsse – beispielsweise die Lahn in Hessen, die sich besonders für Einsteiger eignet.

Am größten sind die Möglichkeiten in den Wasserlandschaften von Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Viele schwärmen von der urwüchsigen Peene, die bis Usedom führt und den Titel „Amazonas des Nordens“ verpasst bekommen hat. Für Mehrtagestouren ist die Mecklenburgische Seenplatte perfekt, schmale Flüsse verbinden die unzähligen Seen. Das womöglich spektakulärste Kanugebiet in Deutschland ist gerade noch am Entstehen: Im Süden von Leipzig wird aus einem der ehemals größten Braunkohlereviere der Welt das sogenannte Neuseenland. 17 durch Wasserstraßen verbundene Seen sollen es am Ende sein.

Was noch fürs Kanufahren spricht? Es ist kinderleicht. Die meisten beherrschen es intuitiv. Und es ist ein Sport, den man gut mit der Familie betreiben kann. Wer nicht völlig ungeschickt ist, kann sich nach einer kurzen Einführung eigenhändig auf die erste Tour begeben. Feinheiten wie die Eskimorolle oder das Wriggen, eine besonders elegante Form des Ausweichmanövers, kann man auch später noch lernen. Oder sich in den Trendvarianten des Kanusports üben: Stand-up-Paddling steht seit ein paar Jahren hoch im Kurs, in wilden Gewässern erproben die Freestyle-Fahrer mit ihren kurzen Booten immer neue Tricks, Surfski nennen sich die ultraleichten Kajaks, mit denen man Wellenreiten kann.

Nach fünf Tagen in der Holzwerkstatt haben die Kursteilnehmer von Nikola Raspopovic ihre Boote fertiggestellt. Die Jungfernfahrt startet direkt am Gelände. An einem Anleger geht es in den Fluss. Ein Ausflugsschiff zieht vorbei, wirbelt Wellen auf, es schaukelt, aber das Kanuyak bleibt stabil im Wasser. Die Boote sind leicht und wendig, ein Einerkajak wiegt keine 15 Kilo. Stadtauswärts geht es an backsteinernen Gebäuden vorbei, unter Brücken hindurch. Es dauert nicht lange, dann hat man den Rhythmus raus, die Paddelschläge werden gleichmäßiger. Und dann spürt man es. Das Glück auf dem Wasser.

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